(editorial Calambur, Madrid, 2013)

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Die unberührbaren Wesen

Traducción de Timo Berger
en ocasión del acto del Día Mundial de la Poesía de la Unesco (Berlín, 20 de marzo de 2015)

 
Die unberührbaren Wesen
(Los seres intocables)


Jorge Semprún las Paul Valèry im KZ Buchenwald

(und in den Latrinen sagten
er und seinen Genossen
auch Heine auf, gemeinsam im Chor
am heiligen Sonntag, an dem man die Männer
in den Latrinen weniger stark bewachte)


Im größten KZ für Frauen auf deutschem Staatsgebiet sammelte Vlasta Kladivova Gedichte über Gedichte

(die ihre Freundin Vera unter ihrer Matratze versteckte
und vorher noch illustrierte
mit farbiger Tinte, gestohlen
aus den Offiziersbaracken)


In Gusen 1 schrieb der Dichter Jean Cayrol in den Pausen seinen Chant d´Espoir auf ein Holzbrett, das als Tisch diente

(Lazarus,
wieder zum Leben erweckt
durch de Aktionen von Johann Gruber, der Priester
mit der tätowierten Nummer 43.050,
der dann drei Tage lang
gefoltert wurde,
bevor er in Händen der SS verstarb)


Primo Levi rezitierte den Gesang des Odysseus nach Dante, als mit einem Freund in der Schlange vor der Suppenausgabe stand

(und Jean Samuel
fragte, warum im Lager von Auschwitz
ausgerechnet
       jener Abschnitt des Inferno
       aufgetaucht war)


Jozef Czapski gab in dem Gefangenenlager von Griazowietz Konferenzen über Proust

(es waren glücklichen Stunden
die laut ihm
nach dem Gemetzel im Wald von Katýn
das Schmerzen der kollektiven Wunde linderten)


In den unterschiedlichen Außenkommandos, die zum KZ Mauthausen gehörten, schrieb der Katalane Joaquim Amat seine Gedichte auf das Papier von Zementsäcken

(er versteckte sie,
sehr lang
in den Lagerräumen
und auch unter seiner Kleidung)


Tatiana Gnedich sagte im dunklen Gefängnis aus ihrem Gedächtnis Tausende von Verse von Lord Byron auf, die sie auswendig gelernt hatte

(ihr Wärter war ergriffen
als er sie die ins Russische übersetzten Verse rezitieren hörte,
und er verzögerte ihre Verlegung
in einen sibirischen Gulag um zwei Jahre,
wo sie 124 Monate verbrachte
und immer allein im Gedächtnis
ihre Übersetzung des Don Juan
perfektioniert hat,
einen Text, den sie – in Freiheit – dann diktierte,
nachdem sie buchtstäblich
blind geworden war).


Halten wir es uns vor Augen (wir,
die wir noch in einem Konzentrationslager geschrieben haben):

In den Latrinen
In den Betten
Auf den Holzbrettern
Vor den Suppenwagen
In den Speisesälen
Auf den aus den Lagern gestohlenen Säcken
Auf dem Wachturm, wo die ungeduldigen Wächter
auf dich lauern:

unberührbare Wesen, Wörter und Verse.




(Enrique Falcón)